Provokante, zögerliche, ärgerliche, schuldbewusste oder kritische Stimmen die in uns durcheinander reden. Wer soll da noch wirklich wissen, wo es lang geht? Wer hat überhaupt die Führung? Eine berechtigte Frage, wenn man in Betracht zieht, dass Multiplizität der natürliche Zustand unserer Psyche ist. Es wird ganz schön vielschichtig, wenn plötzlich das Selbst und die zugehörigen Persönlichkeitsanteile die Bühne betreten.

Vielleicht kennst du das: Eben noch bist du in einer heiteren, leichten Stimmung und dann sagt dein Gegenüber etwas, was bei dir als Ablehnung, Kritik oder Erwartung ankommt – vorbei ist es mit der Lockerheit. Da sitzt ein Kloß im Hals, brennt ein Schmerz in der Brust oder scheint Lava in deinem Bauch zu brodeln. Am liebsten würdest du den Menschen, dem du gerade noch vertraut hast, nie wieder sehen oder du schreist ihn an, was deine Kehle hergibt. Egal wofür du dich entschieden hast, einige Zeit später tauchen vielleicht Gewissensbisse auf und mit noch etwas mehr an Abstand und Reflektion kannst du dir überhaupt nicht mehr erklären, warum du gerade so reagiert hast, denn eigentlich bist du nicht so und magst den Anderen doch gerne. Wer bist du denn nun wirklich: der wütende Aspekt, die kritische bzw. richtende Stimme oder die Gelassenheit pur? Wer von all denen ist denn nun eigentlich das Selbst? Oder ist das Selbst gar noch etwas ganz Anderes, Unentdecktes in dir?
Man könnte wie in manchen Religionen wie dem Hinduismus oder dem Buddhismus zu finden, meinen, dass es ein Selbst und ein Ego gibt, während ersteres einen Zustand von Gedankenleere beschreibt, in dem man zur Wahrnehmenden bzw. zum Beobachter wird und der ein Verschmelzen mit allem was ist erlaubt, beheimatet zweiteres all unsere Ich-will- und Ich-will-nicht-Stimmen, all das eben, was aus der Dualität entspringt. Das Selbst kann in der Stille gefunden werden und wenn es gefunden ist, beschenkt es uns mit dem Empfinden universeller Verbundenheit; das Ego hingegen ist gekennzeichnet durch Betriebsamkeit, die es braucht für die alltäglichen Tätigkeiten und erlaubt uns, unsere Individualität auszudrücken. Um den Zustand der All-Einheit oder Erleuchtung zu erreichen gilt es demnach das ewig laute, betriebssame Ego zu bekämpfen oder gar zu töten, sodass das wahre Selbst sichtbar wird.

Umarmen statt ablehnen
Ist die Zerschlagung des Egos nun tatsächlich der Weisheit letzter Schluss? Wer wenn nicht der betriebsame Geist ist es, der Optionen abwägt und uns Entscheidungen treffen lässt, der uns unsere Berufe ausführen lässt und es uns ermöglicht, Beziehungen zu pflegen. Zugegeben, manchmal rennen die Gedanken und Gefühle im Kreis, so dass wir kein Stück weiterkommen, doch klar und reflektiert ist die gedankliche Betriebssamkeit eine Quelle an Inspirationen oder Lösungen. Welchen Weg gibt es noch, den man gehen könnte, bei dem das Ego nicht bekämpft wird? Könnte man das Ego vielleicht auch als Freund sehen und ist es gar nützlich?
Richard C. Schwartz, ein amerikanischer Familientherapeut und Begründer der IFS-Methode (Internal Family Systems) beschreibt das Selbst folgendermaßen: „Es scheint, dass wir alle in unserem Kern Eigenschaften wie Neugier, Mitgefühl, Ruhe, Zuversicht, Mut, Klarheit, Kreativität und Verbundenheit haben. Das Selbst ist die Seele, über die spirituelle Traditionen sprechen, aber die nur wenige psychotherapeutische Richtungen würdigen. Ihr Selbst wird verdeckt durch all die Angst, Wut und Scham – all die extremen Gefühle und Überzeugungen, die Sie im Laufe Ihres Lebens in sich aufgenommen haben.“ Das Selbst wird hier beschrieben als friedlicher, freudiger und verbundener Zustand. In seinem Bild der inneren Familie hat jeder seinen Platz, das Selbst wie auch all die weiteren Familienmitglieder, (Persönlichkeits)Anteile genannt.

Im Beispiel aus der Einleitung haben wir die Kritikerin und den Wütenden kennengelernt, sie können ebenso zur Familie gehören wie vielleicht die Rebellin oder der Perfektionist. Und so wie es in jeder Familie ist, kann es sein, dass sich einzelne Mitglieder stark in den Vordergrund drängen oder es kommt zu Zwistigkeiten unter den Mitgliedern, doch Familie ist Familie – sie gehören dazu und wie in einem Team hat jeder Persönlichkeitsanteil eine Rolle, die helfend ist auch wenn das auf den ersten Blick nicht deutlich ist. Ein Beispiel: Vielleicht hat sich in der Kindheit ein kritischer Anteil entwickelt, als man etwas noch nicht so gut konnte und dafür gehänselt wurde. Das tat weh und der Kritiker treibt heute innerlich dazu an, bloß immer das Beste zu geben, um nie wieder in eine solche schmerzhafte Situation zu kommen. Immer vollen Einsatz zu zeigen und perfekt sein zu wollen kann natürlich ganz schön anstrengend werden. Könnte der Kritiker sehen, dass die Gefahr von Verletzung nicht mehr besteht, weil man anders damit umgehen kann, könnte er vom gnadenlosen Antreiber zu einem Anteil werden, der bestärkt und motiviert.
Beschützt werden und schützen
Werfen wir einen Blick auf unsere Kindheit, in der so viele prägende Erfahrungen gemacht werden: Als Kind tauchen wir mit unserem Selbst in diese Welt ein, erst nach und nach entwickelt sich ein bewusstes Ich. Wir erkennen erst langsam, dass wir ein selbstständiges Wesen mit eigenen Bedürfnissen sind. Werden unsere kindlichen Bedürfnisse nach z.B. Nähe, Sicherheit, Zärtlichkeit etc. erfüllt, dann reifen Selbst und Persönlichkeitsanteile zu einer integrierten Person heran. Kommt es zu Störungen der Entwicklung, in denen das Kind überfordert ist, weil seine Bedürfnisse nicht erfüllt werden, werden unsere Teile mehr und mehr belastet. Schmerzliche Erfahrungen wie Kritik, Beschämung, Bestrafung oder unerfüllte Bedürfnisse bleiben unverdaut und werden von den empfindsamen, verletzlichen Teilen getragen, die daraus häufig Überzeugungen wie „Ich bin nicht genug.“ oder „Ich bin nicht liebenswert.“ entwickeln.
Um nicht mehr mit dem Schmerz, den diese Teile tragen konfrontiert zu werden, wenden wir uns von ihnen ab, verstecken sie in unserem Inneren. Doch es sind nicht die Teile, sondern es sind die Lasten, die sie für uns tragen, die schmerzhaft sind. Die Teile – Lebensfreude, Verspieltheit, Unschuld etc. – sperren wir traurigerweise mitsamt den Lasten weg. Zu deren Schutz entwickeln sich Persönlichkeitsanteile, die entweder alles dafür tun, die Verletzlichen vor dem abzuschirmen, was den Schmerz aufweckt oder – sollte es doch passiert sein – ihn so rasch als möglich betäubt. So verhilft ein Anteil wie „das brave Kind“ dazu, doch noch die ersehnte Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erhalten – allerdings für den Preis des Verzichts auf lebendiges Herumtollen.

Wenn das Selbst die Führung übernimmt
Die Anteile – die Perfektionistin, der Stubenhocker oder der Alleinunterhalter – werden uns leicht so vertraut, als wären sie unser wahres Wesen. Heike Mayer, IFS-Therapeutin, formuliert es so: „Wir vergessen, wer wir sind und schon immer waren, und halten uns für das, was wir über uns denken. Genauer gesagt: In der Regel halten wir uns für das, was unsere kritischen Teile über uns denken, oder aber für das, was unsere verletzten Teile fühlen.“ Meinen es Anteile im Grunde alle gut mit uns, so kann ein einstmals nützliches Verhalten zur Blockade für ein erfülltes Leben werden. Wir fühlen uns vielleicht taub und leer, suchen nach einem authentischen Ausdruck, werden immer wieder von Ereignissen getriggert oder haben nicht die Energie, die wir uns wünschen.
Der Prozess, der herausführt ist nicht der Kampf gegen diese Persönlichkeitsanteile – die, um daran zu erinnern, sich entwickelt haben, um uns zu schützen – sondern die Entlastung von ihren Aufgaben. Heute sind es nicht mehr die Eltern, die für die Erfüllung von Bedürfnissen da sind, sondern wir können wieder den Zugang zu unserem Selbst finden, das immer da war und auch unversehrt ist. Das Selbst kann sich den versehrten Persönlichkeitsanteilen zuwenden, langsam Vertrauen aufbauen und sukzessive die Verantwortung übernehmen, so dass sie sich mehr und mehr entspannen und ihre Ressourcen für uns zur Verfügung stellen können. Es geht nicht darum, unliebsame Eigenschaften loszuwerden, sondern sie zu integrieren und zu transformieren. Richard C. Schwartz sagt dazu: „Es ist der Prozess des Entlastens, der das Selbst befreit.“ So wird plötzlich aus dem Rechtmacher ein Diplomat, der Kritikerin eine Beraterin und dem Faulpelz ein Entspannungs-Coach.

LITERATUR
Bin ich traumatisiert? – Wie wir die immer gleichen Problemschleifen verlassen
Verena König, 2022
Das System der Inneren Familie - Einführung in die IFS-Therapie; Ein Weg zu mehr Selbstführung
Richard C. Schwartz, 2024
Ich steh mir selbst nicht mehr im Weg - Innere Persönlichkeitsanteile erkennen, verstehen und heilen
Heike Mayer, 2022
Patanjalis psychologische Yogalehre - Mit sozialgeschlichen Hintergründen und praktischen Übungen
A. Rahimo Täube, 2022

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