Das Dilemma mit der Angst ist, dass sie wohl einen Sinn macht – nicht umsonst hat die Evolution sie eingerichtet – und zugleich fühlen wir sie nicht gerne. Zu unterscheiden, ob die Angst von einer realen Gefahr geweckt wurde oder der Vorstellung einer potentiellen Katastrophe entspringt, hilft bei der Annäherung an ihren Sinn – sie möchte schlicht unser Leben schützen. Und nebenbei lässt sie uns die Schritte ins Unbekannte wagen und uns reifen.
Sehen wir uns das genauer an: Wir sind von der Natur mit Angst ausgestattet, um im Fall einer Gefahr unser Überleben durch Fight, Flight oder Freeze (Kampf, Flucht oder Erstarrung) zu sichern. Blitzschnell reagiert unser Körper im Gefahrenfall mit der Mobilisierung von Energie – Adrenalin wird freigesetzt, Herzschlag und Atmung sind gesteigert, die großen Bewegungsmuskeln werden besser durchblutet, um für Kampf- oder Fluchtreaktionen vorbereitet zu sein während alle Körperfunktionen, die nicht dem Überleben dienen, runtergefahren werden. Ist nun die Gefahr gebannt, entspannt sich der Körper wieder. Das macht die Angst zu einer lebensbewahrenden Einrichtung der Natur.
Das Problematische daran ist nun, dass unser Gehirn nicht zwischen einer realen Bedrohung und der Vorstellung einer solchen unterscheidet. Im Gegensatz zu Tieren besitzt der Mensch Vorstellungskraft. Nehmen wir als Beispiel ein Schaf. Es überlegt nicht, ob es auf eine Wiese zum Weiden geht oder nicht, weil es der Annahme ist, es könnte dort auf einen Wolf treffen, der ihm gefährlich wird. In dem Moment aber, in dem es tatsächlich auf einen Wolf trifft, rennt es aus Überlebensinstinkt weg. Wir Menschen allerdings vermuten allerhand Gefahren und fühlen uns bedroht. „Angst entsteht immer aus einem tatsächlichen oder vermuteten Verlust der Kontrolle über das eigene Leben.“ schreibt dazu Constanze Dennig in „Willkommen Angst“.
Der Schritt ins Unbekannte lässt uns reifen
Darin zeigt sich auch, dass Angst mit der Zukunft verknüpft ist, sie bezieht sich auf das, was sein könnte. Machen wir doch eine kleine Rückblende in die Vergangenheit auf Lebensereignisse, die wir vermutlich alle kennen und die möglicherweise von Angst begleitet waren wie der erste selbstständige Schritt als Kleinkind, der Schulanfang, der erste Kuss, die erste eigene Wohnung, der erste Job usw. Was, wenn wir all das nicht gewagt hätten? Wenn wir an der Schwelle des Bekannten zum Unbekannten vor lauter Angst den nächsten Schritt nicht gemacht hätten? In seinem Buch „Grundformen der Angst“ schreibt der Psychoanalytiker Fritz Riemann: „Jede Entwicklung, jeder Reifungsschritt ist mit Angst verbunden, denn er führt uns in etwas Neues, bisher nicht Gekanntes und Gekonntes.“
Obwohl uns manche Momente so vorkommen, als ginge es um unser Leben bzw. Überleben wissen wir auch, dass es bei rationaler Betrachtung keine Gefahr bedeutet z.B. seine erste eigene Wohnung zu beziehen. Was vor uns steht ist einzig und allein das Unbekannte in Form von all den Schritten, die es braucht, um zu Strom, Heizung und Internet zu gelangen, zu einer wohnlichen, schönen Atmosphäre und zur Meisterung neuer Lebensumstände wie etwa alleine oder in einer neuen Gemeinschaft zu leben. Gleichwohl können sie hier an der Schwelle zum Unbekannten auftauchen, die Ängste vor dem Verlust der Existenz, dem Versagen oder der Bindung und sie lassen uns vielleicht zurückweichen. Die andere Möglichkeit ist, dass wir gemeinsam mit der Angst die Schwelle überschreiten und unsere Kreativität nutzen, um Schritt für Schritt die anstehenden Aufgaben zu lösen, Erfahrungen zu sammeln, Fehler zu machen und Veränderungen zu initiieren, wo sie gefordert sind, um schlussendlich festzustellen, dass wir uns als selbstwirksam erfahren durften und über uns hinausgewachsen sind. All das, weil wir die Kraft der Angst – wir erinnern uns daran, dass im Moment der Angst Energie in uns mobilisiert wird – für die Bewältigung des Schrittes ins Unbekannte nutzen konnten.
Angst ist pure Energie
Wird die Kraft der Angst nicht genutzt – kommt also die Energie nicht zum Einsatz – verharrt sie in uns. Dann engt uns die Angst ein, sie lähmt und blockiert. Sie lässt uns zögern, zaudern und auf der Stelle treten. Nehmen wir an, da ist eine Frau, die große Angst vor Ablehnung hat, vielleicht genährt durch bisherige Erfahrungen in ihrem Leben. Sie trifft einen Menschen, den sie sehr gerne hat und mit dem sie sich eine Beziehung vorstellen kann, doch gibt sie – zurückgehalten von ihrer Angst vor Ablehnung – nichts davon preis. Sie beraubt sich einer Chance, aus Angst vor dem, was passieren könnte und wovor sie sich gerne schützen möchte. Doch ist Schutz wirklich das beste Mittel vor Schmerz oder der Angst vor dem Schmerz?
Michael A. Singer beschreibt in seinem Buch „Die Seele will frei sein“ zwei Optionen, die wir haben, wenn wir uns einen Stachel im Arm eingezogen haben. So können wir den Stachel bandagieren und den Arm ruhigstellen, damit es nicht mehr schmerzt. Gegebenenfalls bauen wir uns eine Rüstung, die vor Umwelteinflüssen noch besser schützt. Selbst zur Überlegung, das Haus nicht mehr zu verlassen, um gar nicht mehr in Kontakt mit anderen zu geraten, die die Wunde berühren könnten, kann es kommen. Die Angst vor dem Schmerz bringt uns dazu, immer mehr Energie für Schutz aufzuwenden, während der Bewegungsradius des Lebens allmählich enger und enger wird, denn da ist immer noch dieser schmerzende Stachel im Arm. Zusätzlich erschaffen wir uns Leid, in dem wir unser Leben nicht vollumfänglich leben.
Geh dorthin, wo deine Angst liegt
Was aber, wenn wir den Stachel mutig herausziehen? Ja, das wird schmerzen, doch mit liebevoller Zuwendung und Pflege der Wunde wird dieser Schmerz von Tag zu Tag geringer werden, bis er eines nahen Tages vollständig verheilt ist. Um noch einmal zum Beispiel zurückzukehren: Niemand hat es gerne, abgelehnt zu werden, wenn wir einem Menschen sagen, dass wir ihn besonders gerne mögen. Doch wissen wir weder, ob wir tatsächlich abgelehnt werden oder ob unsere Zuneigung nicht sogar erwidert wird. Jedenfalls sterben wir nicht an einer Ablehnung. Einstmals in der Kindheit, wo wir abhängig waren von der Zuwendung unserer Bezugspersonen wäre es tatsächlich existenziell geworden, hätten sie sich von uns abgewendet. Heute allerdings sind wir selbst erwachsen, so dass unser Verstand weiß, dass es unangenehm ist, doch wir werden es überleben.
Die Lösung kann somit darin liegen, nicht aus Angst alles kontrollieren und uns so vor Schmerz schützen zu wollen, sodass unser Leben immer enger und kleiner wird, sondern uns dem Leben hinzugeben und darauf zu vertrauen, dass wir – was auch immer kommen mag – damit umgehen können.
INFOBOX
VOM UMGANG MIT DER ANGST
Angst ist ein Gefühl, ein Zustand in unserem Körper, den wir nicht einfach so wegrationalisieren können. Die Angst möchte gesehen werden, sie möchte, dass wir uns ihr zuwenden, damit die Energie, die in ihr erstarrt ist und uns am Weitergehen hindert, wieder in Fluss geraten kann – ähnlich einem Eisblock, der langsam durch die wärmende Aufmerksamkeit der Sonne wieder auftaut und zu fließendem Wasser wird, Energie, die sich lebendig und frei bewegt. Die folgenden drei Schritte weisen einen Weg aus der Angst:
Wahrnehmen und sich die Angst bewusst machen
Um sich seiner Angst gewahr zu werden ist ein Blick auf den eigenen Körper hilfreich. Welche Signale kann ich wahrnehmen? Ist da ein Druck auf der Brust? Schlägt das Herz schneller? Habe ich weiche Knie? Fühlt es sich kalt an? Vielleicht wie gelähmt?
Es braucht manchmal ein bisschen Übung und Geduld, eine gute Verbindung zu seinen Körperwahrnehmungen herzustellen, doch es lohnt sich, sich selbst zuzuwenden. Hat man ein Gefühl der Angst geortet, macht es Sinn, über die gedankliche Formulierung etwas Abstand zu nehmen. Ein "Ich bin ängstlich." kommt einer Identifikation mit der Angst gleich (alles in mir ist Angst). Hingegen schafft "Ich fühle Angst in mir." oder sogar "Ein Teil von mir fühlt Angst." eine kleine, doch wichtige Distanz zur Angst und lässt Spielraum: Während ein Teil von mir ängstlich ist, gibt es einen weiteren, der das beobachten kann und nicht von der Angst ergriffen ist.
Orientieren in der Gegenwart
Angst haben wir vor dem, was in der Zukunft sein könnte. Gleichzeitig sind es unangenehme Erfahrungen aus der Vergangenheit, die wir so oder so ähnlich gemacht haben und fortschreiben, die die Angst wecken. Sich in der Gegenwart zu verankern, hilft uns zu erkennen, dass unsere Angst nicht von einer realen Gefahr kommt bzw. dass wir in Sicherheit sind.
Sehr hilfreich erweist sich dabei die Orientierung im Raum, in dem man sich befindet. Dafür beginnt man in aller Ruhe den Raum zu betrachten, so als würde man alle Details eines Gemäldes in sich aufnehmen zu wollen. Wichtig ist dabei, dass der ganze Kopf sich langsam zu den Seiten, nach oben und nach unten bewegt. Diese sanften Bewegungen und das, was wir beobachten, signalisiert unserem Gehirn, das im Hier und Jetzt alles in Ordnung ist und wir uns in Sicherheit befinden.
Bewegen, um die Energie ins Fließen zu bringen
Bei Angst wird in unserem Körper ein hohes Maß an Energie bereitgestellt, soll doch Kampf oder Flucht unser Leben bewahren. Kommt diese nicht zum Einsatz, weil wir doch nicht weglaufen oder unser Leben verteidigen mussten, verharrt sie im Körper und sammelt sich mehr und mehr an. Um diese Energie wieder freizugeben, tut Bewegung gut. In der akuten Situation könnte es z.B. ein paar Minuten sanftes Schütteln sein. Auch ein Spaziergang in der Natur ist empfehlenswert.
LITERATUR
Die Seele will frei sein
Michael A. Singer, 2016
Grundformen der Angst
Fritz Riemann, 1961
Willkommen Angst – Vom Nutzen der Furcht
Constanze Dennig, 202

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